Im Alter zwischen 10 und 16 hatte wirklich jeder eine Zahnspange in meinem Freundeskreis, ja, jeder und überall: im Bus, im Zoo, auf Geburtstagen, in der Schule. Diese Zahnspangen-Exemplare gab es in dezenter Form zum Rausnehmen, in festem Zustand, als sogenannte Schneeketten, gerne auch mit Überrollbügel außen am Kinn entlang und irgendwann als Gummibeißring zur Nachbehandlung.
In den 80ern fingen die fetten Jahre der Kieferorthopäden an.
Ich hatte keine. Niemand hielt es für nötig. Irgendwie fiel ich durchs Raster, oder man dachte, die Fehlstellung meiner unteren Schneidezähne würde sich schon irgendwie rauswachsen.
Tat es aber nicht.
Meinen ersten Anlauf, meine Zahnstellung zu optimieren, unternahm ich mit Mitte 20. Der Vorschlag des ambitionierten Kieferorthopäden war jedoch ernüchternd. Ein Schneidezahn raus und alles in die Mitte verschieben.
Sehr schön, aber ohne mich.
Übrigens auch ohne meinen Zahnarzt, der diese Lösung als persönlichen Affront ansah und wütend meinte, er würde keine Patienten mehr dort hinsenden.
Die Zeit war kein guter Verbündeter und die Zähne im Unterkiefer fingen nach einigen Jahren gelangweilt an, mit den Zähnen im Oberkiefer zu kommunizieren, aber auf keine ästhetische Weise. Sie hämmerten von unten an die oberen Schneidezähne, die daraufhin ihre Position verließen.
Ich wollte nicht aussehen wie Freddie Mercury, also entschloss ich mich, mir erneut einen qualifizierten Rat einzuholen.
Gesagt, getan, 2,5 Monate später saß ich im Behandlungsstuhl einer supermodernen Zahnarztpraxis und wartete auf meine durchsichtigen Zahnschienen, die ich nun im wöchentlichen Wechsel für die nächsten 1 bis 1,5 Jahre tragen würde.
Mit einer gewissen Naivität beseelt, wartete ich völlig unvorbereitet auf die Dinge, die da kommen sollten. Kieferorthopäden haben etwas Robustes, Kieferorthopädinnen auch. Mir war nicht klar wie weit sich mein Mund öffnen ließ, zugegebener Massen unter Zuhilfenahme irgendwelches fiesen Equipments. Ich dachte wirklich mir reißen und platzen jede Sekunde die Lippen komplett auf.
8 Attachments später, und nach irgendwelchen Schleifmaßnahmen und Polituren, ging ich mit einem Tütchen weitere einzuwechselnder Schienen für die nächsten 3 Wochen aus der Praxis heraus.
Ich saß im Auto, schaute mich im Rückspiegel an und machte Sprachübungen. Mein Mund sah komisch aus und meine Lippen verfingen sich an den Attachments. In meinem Kopf ratterten alle Hinweise, die ich kurz zuvor, etwas gedämpft durch den Mundschutz, von meiner Kieferorthopädin bekommen hatte. Nur kaltes Wasser trinken, für alles andere und fürs Essen mussten die Schienen raus. Aber nur 2h am Tag. Aufpassen mit Rotwein, Kaffee und Tee, die könnten die Attachments verfärben. 130 x Zähneputzen am Tag, mit Zahnseide.
Tag eins von ca. 500 Tagen lief nicht so gut.
Tag 2 wurde nicht besser. Ich lispelte und in meinem Mund sammelten sich riesige Spuckeseen. Alles drückte irgendwie, und ich hatte einen Entenschnabel. Beim Sprechen verformte sich mein Mund, als hätte ich sie nicht alle und wäre Daisy Ducks kleine Schwester.
Meine Mundschleimhäute waren überreizt und taten weh, da sich die Schiene und die Attachments von innen daran rieben. Ich hatte Schmerzen.
Das größte Problem jedoch war das Herausnehmen der Schienen. Es ging einfach nicht. Ich habe sie nicht rausbekommen und war kurz vorm Ausflippen und irgendwann kurz vorm Nervenzusammenbruch. Ich heulte. Eine Schiene hatte ich schon umgeknickt, und diese scharfe Kante piekte meine Zunge und mein Zahnfleisch. Ich heulte noch mehr. Der Mann tröstete mich.
Es lebe das Internet. Der Mann suchte mir Seiten von Mitstreiterinnen heraus, die eine Art Internet-Tagebuch führten, und dort jedes meiner Probleme genau beschrieben und mir damit Mut machten. Somit zückte ich eine Nagelschere und gemeinsam mit dem Mann operierten wir meine lädierte Schiene.
Heute ist Tag 14. Ich lispele nicht mehr, habe eine eigene Technik entdeckt, wie ich in kurzer Zeit einen Schienenwechsel, ohne mir das Make-up zu versauen oder den Lippenstift komplett im Gesicht zu verteilen, händeln kann.
Mein Mund sieht wieder recht normal aus und hat den Schnabel verabschiedet, das Lispeln hat auch nachgelassen.
Menschen in meiner Umgebung fällt meine Zahnkorrektur nicht auf. Die Kinder, alle auch mit großem eigenen Zahnspangenerfahrungsschatz ( der Mann sagt immer wir hätten die letzten Urlaube, das Boot und die Autos des Kinderkieferorthopäden mitfinanziert), haben mich getröstet und mir Mut gemacht, und die sollten es genau wissen, hatte sie doch dicke Brackets auf ihren Zähnen.
Alles wird gut, spätestens in 486 Tagen.
Ein Gutes hat das Ganze, ich habe schon 1,5 Kilo abgenommen…
Ihr Fräulein Lindemann.