Ich bin als Kind nie verhauen worden, nie wirklich gemaßregelt.
Hatte ich einen starken Willen? Hmm, vielleicht. Habe ich immer das gemacht, was ich sollte? Definitiv nein. Schon mit 4 habe ich meine Mutter in den Wahnsinn getrieben
Ich sollte mein Zimmer aufräumen. Tat ich nicht. Nach ewigem hin und her entschied meine Mutter mich mit einer Drohung zu überzeugen. Mein Spielzeug käme in den Müll. Interessierte mich nicht. Auch dass meine Mutter diese Drohung 2, 3 Mal wiederholte, hat meine Einstellung nicht verändert. Um glaubwürdig zu bleiben, holte also meine Mutter irgendwann die Oscar-Mülltonne (kennen Sie noch die alte „Sesamstrasse“?) in den 2. Stock die Treppen herauf und entsorgte mein gesamtes Playmobil.
Ich heulte wie ein Schlosshund, aber auf die Frage meiner Mutter, ob ich dann doch aufräumen würde, kam nur ein trotziges: nein.
Ich bewundere meine Mutter sehr über die Fassung, die sie behielt und die Tatsache, dass sie mir den Hintern nicht versohlt hat, wie es zu dieser Zeit durchaus üblich war, und sie diesem innersten Drang, auch ohne Meditation und Yoga, wiederstehen konnte.
Diese Haltung hat sie bis heute beibehalten, und es gab sicher viele Situationen, in denen ich sie bis zum Äußersten gereizt und auf die Palme gebracht habe.
Ich wurde nie gehauen. Mit 18, 19 (vor 10 Jahren etwa) war ich mit meinen Freunden auf einer Party. Einem Typen dort bekam der Alkohol in der dargereichten Menge gar nicht, und er kloppte auf den Freund meiner Freundin ein. Feige und hinterhältig, und selbstverständlich grundlos, gab es einen Tritt zwischen die Beine. Carl, ebenfalls aus einem zivilisierten Elternhaus kommend, konnte sich vor Schmerz und Benommenheit nicht wehren. Ich glaube, hätte er noch genug Luft zum Sprechen gehabt, hätte er es auch gerne ausdiskutiert anstatt männlich zu antworten. (Vater Geschichtsprofessor- Mutter Malerin)
Meine Freunde und ich waren empört. Dem Blödmann gegenüberstehend, erklärte ich meine Abscheu, und ich erinnere mich , dass ich auch Worte wie „Asozial“ und „Vollpenner“ nutzte. Da holte der doch tatsächlich noch mal aus, und nur ein guter Reflex und ein beherzter Schritt nach hinten retteten mich vor einem schmerzhaften Schlag, so bekam ich nur einen leichten Klaps. Meine Empörung wuchs, allerdings schrumpfte meine Fähigkeit, ihn zu treten, beißen oder sonst irgendeine Form von Ausgleich zu finden, gegen Null. Weitere Reflexe waren nicht existent. Wie konnte er nur diese Grenze überschreiten? Erstens war ich ein Mädchen und zweitens hatte er ein Hirn, oder zumindest Teile davon die die Höhle auf seinem Hals füllten, die ihn auf meine Provokation anders hätten reagieren lassen müssen. Und, ich war ein Mädchen. Und ich wiederhole: ich war ein Mädchen.
Meine Freundin, die auch Carls Freundin war, hatte einen, sagen wir mal so, etwas handfesteren Vater, der es mit der Behandlung seiner Tochter, wenn ihm etwas missfiel, auch nicht so genau nahm. Sarah hatte die Grenzenlosigkeit ihres Vaters schon einige Male spüren müssen und war somit von unserem kleinen Schläger so gar nicht beeindruckt. Schmerz interessierte sie nicht, und über den Punkt der Empörung über die schlagende Zunft, war sie schon lange hinaus.
Sie fing ihn einige Zeit später bei der Toilette ab, holte aus und verpasste ihm mit ihren Boots den Tritt seines Lebens – mit Grüßen von Carl und mir. Er heulte auf und schwor Rache. Da fing er sich gleich noch eine. Sarah lächelte ihn an und sagte, dass sie sicher wäre, er würde die Party umgehend verlassen und sicher niemandem erzählen, dass er von einem Mädchen versohlt wurde. Ich stand die ganze Zeit Schmiere. Er ging. Zwei Tage später rief er bei mir zuhause an und entschuldigte sich.
Wieso übertreten manche Menschen die Grenzen, und wieso können Sie das und sind nicht blockiert wie andere?
Warum zählt der Mädchenbonus nicht mehr, sondern es sind die Mädchen die verhauen? Ich meine nicht Sarah, die hat nur ihre Freunde beschützt und ihren Freund verteidigt.
Am Wochenende waren der Mann und ich mit 2 Freundinnen bei „Tanz in den Mai“ und tanzten fröhlich mit allen Altersklassen durch den Abend, bei Livemusik und Kölsch. Gerade mal neues Bier holend und altes wegbringend, musste ich sehen wie eine Gruppe Damen, mittendrin meine Freundin und der Mann, etwas schubsend, umgeben von zwei Security-Männern, wild diskutierten. Speziell eine junge Dame motze auf meine Freundin ein und stand viel zu dicht vor ihr. Ich stellte mich vorsichtshalber mal dazwischen, immer mit der Hoffnung, dass der Mann mich im Notfall vor diesem wildgewordenen, laut schimpfenden, halb so alten Mädchen beschützen würde.
Es stellte sich heraus, dass der Tanzstil meiner Freundin, der Dame und ihren 4 Freundinnen missfiel und zu viel Platz einnahm, und sich beim anschließenden Diskutieren und Anbrüllen irgendwie der Ellbogen der einen, mit der Nase der Freundin zusammenstießen. Der Abend wurde dann beendet.
Ich habe noch immer die stille Hoffnung, dass es sich bei dem Zusammenprall um ein Versehen handelte. Fakt jedoch ist, dass es 5 gegen eine waren, und der Mann einer der aufbrausenden Trusen (Damen, wäre hier nicht mehr angebracht) die Arme hinter ihrem Rücken festhalten musste, nur so zur Sicherheit, weil ihre Arme doch plötzlich einen größeren Bewegungsradius einzunehmen schienen.
Was war noch der Grund?
Genau, Kleinigkeiten! Wir übersehen und dulden nichts mehr, unsere Toleranz und Akzeptanz ist kaum noch existent. Stattdessen echauffieren wir uns und einige werden sogar handgreiflich.
Ich werde überlegen, ob ich einen Selbstverteidigungskurs machen sollte, oder das Pfefferspray regelmäßiger mitnehme. Nur so zur Sicherheit.
Ich habe den Mann gefragt, ob er mich verteidigen würde, also genauer, ob er im Notfall andere für mich, wenn nötig, verkloppen würde.
Er sagte ja, und ich bin froh.
Ihr Fräulein Lindemann